Cover
Titel
@ichbinsophiescholl. Darstellung und Diskussion von Geschichte in Social Media


Herausgeber
Berg, Mia; Kuchler, Christian
Reihe
Historische Bildung und Public History
Erschienen
Göttingen 2023: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
244 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Charlotte Adèle Murphy, Osteuropäische Geschichte, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Seit dem „Memory Boom“ der letzten Jahrzehnte, dem „digital turn“ in Gesellschaft und Erinnerungskultur und spätestens seit der Corona-Pandemie ist eine Verschiebung historischer Inhalte in den digitalen Raum zu verzeichnen, die neue Fragen und Herausforderungen für die Forschung eröffnet.1 Zudem werden heute neue mediale Formen der Auseinandersetzung mit Geschichte und Erinnerung benötigt, die jüngere Generationen ansprechen oder von ihnen gestaltet werden. Hier knüpften die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Südwestrundfunk (SWR) und Bayerischer Rundfunk (BR) 2021 mit ihrem Instagram-Projekt @ichbinsophiescholl an: Die Widerstandskämpferin Sophie Scholl wurde mit einem Instagram-Tagebuch ins 21. Jahrhundert geholt und interagierte wie eine Influencerin über Beiträge, Stories und Kommentare mit Nutzer:innen.

Diesem in Öffentlichkeit und Geschichtswissenschaft kontrovers diskutierten Projekt widmen sich die Geschichtsdidaktiker:innen Mia Berg und Christian Kuchler mit ihrem Sammelband. Ihr Ziel ist es, verschiedene Perspektiven auf das Projekt @ichbinsophiescholl zu versammeln und dessen Konzeption und Rezeption inter- und transdisziplinär zu durchleuchten. Anhand von @ichbinsophiescholl soll gezeigt werden, wie Geschichte auf Instagram dargestellt wird und welche Potentiale und Herausforderungen derartige Projekte insbesondere für die Vermittlung von Geschichte (auch, aber nicht nur im Schulunterricht) mit sich bringen. Außerdem eröffnet sich die naheliegende Frage, ob „Social Media eine neue Dimension der Public History darstellt oder alte Debatten im neuen Gewand ausgelöst hat“ (S. 11), denn schon in den 1970er-Jahren wurde neuen Formaten der medialen Auseinandersetzung mit Geschichte und Erinnerung trotz ihrer Popularität Geschichtsfälschung und Trivialisierung der Vergangenheit vorgeworfen.2 Die Gliederung des Bandes umfasst neben einer Einleitung fünf Kapitel, in denen neben historischem Kontext, Produktion, Rezeption und Aneignung auch geschichtsdidaktische Studien und Zukunftsperspektiven einbezogen werden.

Spannungen zwischen dem Projekt und geschichtswissenschaftlichen Zugängen beleuchten Hans Günter Hockerts und Nils Steffen in ihren Beiträgen. Hockerts untersucht die Idealisierung Sophie Scholls als Widerstandskämpferin auf Instagram im Kontext der biographischen Forschung zu ihrer Rolle im NS-Widerstand. Ihre heutige Popularität erklärt er – entsprechend dem kollektiven Gedächtnis nach Maurice Halbwachs – mit dem gesellschaftspolitischen Bedürfnis nach Aktualisierung der Erinnerungskultur, wodurch Erwartungen der Gegenwart auf die Vergangenheit projiziert werden. So werde die Ausblendung unerwünschter Facetten der Person Sophie Scholls, wie beispielsweise ihre religiöse Motivation, verständlich. Steffen diskutiert, inwiefern Social Media für die Geschichtswissenschaft „Neuland“ darstellt, und betont, dass diese einen bedeutenden Quellenwert für die Forschung haben. Das Projekt @ichbinsophiescholl sei in der Lage, mit seinen Geschichtsbildern Einfluss auf die Erinnerung an die historische Persönlichkeit Sophie Scholl zu nehmen. Hier könne die Forschung ansetzen und die Umsetzung und Auswirkungen derartiger Projekte analysieren.

Der zweite Teil widmet sich der Produktion von @ichbinsophiescholl und ähnlichen Projekten und geht auf mediale Strategien und Überlegungen ein. Hier bietet Lydia Leipert als Mitarbeiterin des Bayerischen Rundfunks einen Insider-Blick in die Produktion und dahinterstehende Recherchen und Überlegungen. Tobias Ebbrecht-Hartmann diskutiert vergleichend verschiedene Formen der medialen Zeug:innenschaft und der Interaktion zwischen Nutzer:innen und Protagonist:innen in den Projekten @ichbinsophiescholl, @evastories und dem Anne Frank Video-Tagebuch auf YouTube. Hier wäre es interessant gewesen, näher auf Genderfragen und die Popularität weiblicher Opfer und Heldinnen einzugehen. Die Kommunikationswissenschaftler Christian Schwarzenegger und Erik Koenen analysieren die mediale Inszenierung und historische (Re-)Konstruktion Sophie Scholls im Projekt und kommen zu dem Schluss, dass es sich nicht um eine Projektion ihrer historischen Persönlichkeit, sondern vielmehr um „ein kommunikatives Angebot“ (S. 100) handelt, das den erinnerungsbezogenen Diskurs in positiver Weise anregen kann.

Verschiedene Formen der Rezeption des Projekts sowie der Aneignung von Geschichte auf Social Media diskutieren die folgenden Beiträge. Tanja Thomas und Martina Thiele zeigen mit Bezug auf Wulf Kansteiner anhand von @ichbinsophiescholl, dass soziale Erinnerungsprozesse in digitalen Medien mehr kommunikativ als kulturell geprägt sind und sich weniger an historischen Fakten orientieren. Auch eine sozialwissenschaftliche Mixed-Methods-Analyse von Interaktionen der Benutzer:innen mit dem Profil @ichbinsophiescholl kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Anhand herausgestellter kommunikativer Praktiken der Aneignung von Vergangenheit – darunter etwa „Aktualisierung und Veralltäglichungen“ des historischen Themas – erläutern die Autor:innen, dass sich die Frage nach der Aneignung von Vergangenheit bei @ichbinsophiescholl „nicht auf historisches Wissen oder geschichts- und erinnerungspolitische Diskussionen“ reduzieren lässt (S. 143). Der Beitrag von Nora Hespers und Charlotte Jahnz setzt den Fokus auf marginalisierte Positionen im deutschen Kollektivgedächtnis und beleuchtet Projekte, die aus Protest gegen @ichbinsophiescholl entstanden sind.

Die darauffolgenden geschichtsdidaktischen Studien zeigen kontroverse Positionen zu Bedeutung und Nutzung von Social Media für die Geschichtsvermittlung. Christian Kuchler diskutiert die veränderte Mediennutzung vor dem Hintergrund des Medienwandels von Fernsehen zu Social Media. Er sieht die Gründe für das fehlende Interesse junger Menschen unter 20 Jahren für @ichbinsophiescholl in ihrer Präferenz für die Plattform TikTok sowie in ihrem Nicht-Nutzen von Instagram für die Suche nach Wissen über historische Sachverhalte. Er formuliert die These, dass eine in der Schule nicht ausgebildete „geschichtskulturelle Kompetenz“ (S. 171) Schuld an dieser Entwicklung trage. Der Einfluss von Trends und Algorithmen auf angezeigte Social-Media-Inhalte wird hier nicht in die Begründung einbezogen.3 Für den Geschichtsdidaktiker ist @ichbinsophiescholl außerdem problematisch, da man von Nutzer:innen nicht erwarten könne, selbst die für historisches Lernen notwendige Distanz herzustellen, die in dem Projekt nicht bereitgestellt und sogar unterwandert wird. Dario Treiber steht dem Projekt zugewandter gegenüber und bietet Überlegungen für den Geschichtsunterricht, die auf ersten Ergebnissen einer Studie basieren. Er stellt fest, dass man bei Schüler:innen über die Arbeit mit Instagram-Darstellungen Empathie für historische Personen evozieren kann. Ein weiterer Beitrag untersucht parasoziale Interaktionen4 mit @ichbinsophiescholl und ihre Auswirkungen auf historisches Denken. Hier liegt die Einsicht darin, dass die Nutzer:innen mit Sophie Scholl auf Instagram wie mit einer echten Person aus der Gegenwart interagieren. Interessant ist diese Feststellung vor dem Hintergrund der Projektproduktion: Wie Lydia Leipert betont, waren die „Sprechhaltung wie zu einer Freundin“ sowie das Schaffen von Nähe zur Protagonistin durch einen emotional wirkenden „radikal subjektiven Selfie-Look“ (S. 59) gezielte Medienstrategien, die sich in der Interaktion der Nutzer:innen mit dem Content niederschlagen. Für Bildungskontexte lässt sich hier mitnehmen, dass eine medien- und quellenkritische Perspektive bei derartigen Projekten herangezogen werden sollte, um mediale Strategien von „Fiktionalisierung, Emotionalisierung und Personalisierung“ aufzubrechen und somit im (Geschichts-)Unterricht auch digitale Medienkompetenz zu vermitteln.

Im Sammelband fehlt – bis auf eine kurze Erwähnung der großen Beliebtheit des Hashtags #history in der Einleitung – die Einbettung des Projekts in den größeren Kontext weiterer (nicht-)kommerzieller Beispiele von „Geschichte in Social Media“. Diese reichen von der Dokumentation historischer Re-enactments bis zu historischen Fotoblogs, live über Instagram-Stories übertragene Gedenkveranstaltungen und Gedenkaktionen oder Profile über historische Modetrends und Architektur. Dadurch entsteht der ungünstige Eindruck, dass Geschichte in den sozialen Medien immer in Form eines Projekts wie @ichbinsophiescholl in Erscheinung tritt, hinter dem ein ganzes Produktionsteam steckt.

Die Herausgeber:innen haben mit dem Sammelband ein vielseitiges Einführungswerk mit interdisziplinären Zugängen und Perspektiven zum Instagramprojekt @ichbinsophiescholl geschaffen, das für die Praxis der Geschichtsvermittlung sowie für die digitale Erinnerungsforschung interessant und relevant ist. Dabei sind jedoch einige Beiträge inhaltlich und theoretisch überladen, sodass man die Kernaussage langwierig suchen muss. Außerdem wiederholen sich in mehreren Beiträgen Informationen sowie ähnliche Gedanken zum Projekt. Hier wäre eine stärkere Redaktion der Beiträge im Sinne eines einheitlicheren Gesamtkonzepts wünschenswert gewesen.

Auf die Frage, was @ichbinsophiescholl allgemein über die Chancen und Schwierigkeiten der Darstellung von Geschichte auf Social Media aussagen kann, liefern die Beiträge unterschiedliche Erklärungsansätze und Antworten. Positiv hervorzuheben ist dabei die Verbindung aus einführenden Überlegungen und ersten empirisch belegten Ergebnissen wie Ansätzen zu Nutzen und Auswirkungen des Projekts, die in zukünftigen Studien aufgegriffen werden können. Außerdem verdeutlicht der Sammelband die Notwendigkeit interdisziplinärer Zugänge und Analysekategorien für Geschichte auf Social Media.

Anmerkungen:
1 Zum „digital turn“ in der Erinnerung(sforschung): Silvana Mandolessi, The digital turn in memory studies, in: Memory Studies 16,6 (2023), S. 1513–1528; Thomas Birkner / André Donk, Collective memory and social media. Fostering a new historical consciousness in the digital age?, in: Memory Studies 13,4 (2020), S. 367–383; Andrew Hoskins (Hrsg.), Digital Memory Studies. Media Pasts in Transition, New York 2018.
2 Für vergleichbare Kritik siehe ältere Diskussionen zu neuen medialen Verhandlungen des Holocaust in Fernsehen und Graphic Novel ab den 1970er-Jahren: Elie Wiesel, Trivializing the Holocaust. Semi-Fact and Semi-Fiction, in: The New York Times, 16.04.1978, S. 75, S. 103; Thomas Doherty, Art Spiegelman’s Maus. Graphic Art and the Holocaust, in: American Literature 68 (1996), S. 69–84; Matías Martínez, Authentizität als Künstlichkeit in Steven Spielbergs Film Schindler’s List, in: Augen-Blick. Marburger und Mainzer Hefte zur Medienwissenschaft 36 (2004), S. 39–60.
3 Siehe zum Beispiel Tarleton Gillespie, #trendingistrending. Wenn Algorithmen zur Kultur werden, in: Robert Seyfert / Jonathan Roberge (Hrsg.), Algorithmuskulturen. Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit, Bielefeld 2017, S. 75–106.
4 „Parasoziale Interaktion“ ist ein Begriff aus der Medienpsychologie, der die einseitige (unter Umständen intime) Beziehung zwischen Rezipient:innen und Medienakteuren beschreibt, wie zum Beispiel Influencer:innen oder virtuellen Figuren. Vgl. Claudia Wegener, „Parasoziale Interaktion“, in: Uwe Sander / Friederike Gross / Kai-Uwe Hugger (Hrsg.), Handbuch Medienpädagogik, Wiesbaden 2008, S. 294–296.

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